Empfehlungen:
Archive, Sammlungen und Ansammlungen von Performance-Artefakten müssen öffentlich zugänglich und sichtbar sein, sonst erfüllen sie ihre Aufgabe nicht.
Ein (Performance-)Archiv muss die eigene Konstruiertheit reflektieren und seine Ein- und Ausschlussverfahren transparent machen.
Ein Performancearchiv soll keine passive Sammlung sein, sondern das Ergebnis performativer Verfahren und Tätigkeiten.
Eine mögliche Strategie, Archive lebendig und sichtbar zu halten, kann darin bestehen, sie retrospektiv und prospektiv, projektorientiert und kollaborativ zu nutzen.
Die Fragmentierung und Disparatheit der ‹Artefaktlage› in Archiven lässt sich auch als Qualität begreifen, die zu neuen theoretischen und künstlerischen Weiterschreibungen führen kann, d. h. zu neuen Formen der Performance-Geschichtsschreibung. Wie alle Erzählungen konstituiert sich auch die Weiterschreibung aus Lückenhaftem, Fakten und den subjektiven Erinnerungen bzw. dem Vergessen.
Für die historische Aufarbeitung ist eine bestimmte Kombination oder eine Vielfalt unterschiedlicher Artefakte unabdingbar.
Die Artefakte sollen als Quellen für eine neue, interagierende, künstlerische, kuratorische, wissenschaftliche und archivarische Nutzung zur Verfügung stehen.
Eine umfassende Dokumentenlage, die mehrere Artefakttypen einschliesst und öffentlich zugänglich ist, bildet die Grundlage für Weiterschreibung und Repräsentation von Performancekunst. Dadurch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass das Konzept einer Performance tradiert wird.
Die Vielfalt der Artefakte impliziert auch die Vielfältigkeit der Stimmen bzw. der Blicke, die eine Annäherung an eine Performance steigert.
Für die künstlerische Weiterschreibung genügen einzelne Artefakte oder lückenhaftes Material, da sich Künstler/innen auch von Details inspirieren lassen.
Gefragt ist ein bewusster Umgang mit subjektiven und künstlerischen Weiterschreibungen in Form von schriftlichen oder in anderer Form aufgezeichneten Artefakten, der erkennt, dass über Authentifizierungsstrategien Effekte von Unmittelbarkeit hervorgerufen und Affekte erzeugt werden können.
Das Performancearchiv als Ort der Tradierung und Weiterschreibung
Explizite Performancearchive gibt es weltweit nur wenige und in der Schweiz derzeit gar keines. Trotzdem finden sich an etlichen Orten Sammlungen bzw. Ansammlungen von Artefakten. Je nach Ausrichtung und institutioneller Anbindung lassen sich diese Archive in zwei Gruppen einteilen, bei denen archivarische Konzepte mehr oder weniger stark verfolgt werden. Im ersten Fall handelt es sich um individuelle Sammlungen von Artefakten, die sich durch eine hohe Bandbreite von verschiedenen Artefakttypen sowie eine individuelle Auswahl und Fokussierung auszeichnen. Die zweite Gruppe umfasst Festival- oder Institutionsarchive, bei denen das Interesse an der Aufbewahrung von Artefakten von Aspekten der Selbstlegitimation sowie dem Bewusstsein einer historischen Verantwortung überlagert ist. Trotz dieser Initiativen ist ein breiter Zugang zu Performance-Artefakten ein Desiderat, das sich in Forschungslücken niederschlägt. Die mangelnde Sichtbarkeit und Öffentlichkeit dieser Archive verstärkt auch ihre prekäre ökonomische und personelle Situation; die unzureichenden Ressourcen haben Auswirkungen auf die Pflege und Aufbereitung der Artefakte, wodurch sich die Auseinandersetzung mit Performancekunst in einem ständigen Kreislauf von Nachholbedarf und Aktualisierung, Anerkennung und Marginalisierung befindet. Diese Situation beeinflusst auch die Rezeption von Performances aus den 1970er bis 1990er Jahren. Bis heute finden sich vorwiegend kanonisierte Performances im Fokus der Forschung, die Jahrzehnte zurückliegen. Uns geht es darum, der Fülle von performativen Arbeiten eine zukünftige Erschliessung zu ermöglichen und die Voraussetzungen für eine Performance-Geschichtsschreibung zu befragen und zu verändern.
Der Umgang mit Archiven und Artefakten ist von Erwartungen und Annahmen geprägt. Dabei wird oft vergessen, dass hinter jedem Dokument, aber auch hinter jedem Archiv Autor/innen stehen, deren subjektive Massstäbe und Haltungen Auswirkungen auf die Auswahl und Zusammenstellung, den Inhalt und die Form haben. Die menschliche Wahrnehmung ist selektiv und fragmentierend und ebenso sind es die technischen Aufzeichnungsmedien wie Video, Fotografie und Audio. Ihnen wird nach wie vor ein wichtiger Stellenwert zugesprochen, obwohl der an sie gestellte Anspruch auf ‹Wirklichkeitstreue› und vollständige Wiedergabe des Livemoments zu relativieren ist.
Mit dem Ausstellungs- und Vermittlungsprojekt archiv performativ: ein Modell stellten wir einen Raum zur Verfügung, in dem modellhaft erprobt werden konnte, wie sich ein Archiv und deren Artefakte performativ weiterschreiben lassen. Ein zentrales Anliegen dabei war es, die künstlerische Forschung als ebenbürtige Partnerin gemeinsam mit theoretischen Praxen an der Aktualisierung von Performancekunst zu beteiligen. Darüber hinaus konnten wir exemplarisch aufzeigen, wie der Tradierung und Weiterschreibung einer regionalen und nationalen Performanceszene anhand des Archivmaterials aus dem Kaskadenkondensator in Basel neue Impulse verliehen werden können. Insofern verstehen sich die in verschiedenen Formen veröffentlichten Projektergebnisse auch als Plädoyer für die Gründung eines Schweizer Performancearchivs.