Das ‹lebendige› Archiv als Grundlage der Tradierung von Performancekunst

Im Zusammenhang mit dem praxisorientierten Forschungsteil archiv performativ: ein Modell im Ausstellungsraum Klingental überprüften wir in einem modellhaften Arbeitsumfeld die These, dass Archive als Überlieferungsinstanzen handelnd angeeignet werden müssen und Handlung initiieren, um lebendig zu bleiben. Einerseits waren wir dafür auf Artefakte angewiesen, andererseits haben wir mit den Aktualisierungen neue Artefakte erzeugt. Mit diesem praxisgeleiteten Teilprojekt leisteten wir auf exemplarische Weise einen Beitrag zur performativen Weiterschreibung des Archivmaterials (Performances von 1998 bis 2006 des Kaskadenkondensators Basel). Dieses performative Verständnis eines Archivs bezieht sich nicht nur auf ein Archivkonzept, wie es Michel Foucault vorgestellt hat, sondern auch auf neuere Archivmodelle aus der Archivkunst und der Archivpraxis sowie auf Impulse, die jüngst die Archivwissenschaft selber in den Diskurs eingebracht hat. Während Foucault das Archiv als eine Methode der ständigen Umschichtung, Transformation und Konstruktion von Wissen und Aussagen durch die Akteur/innen denkt, die in spezifischen Diskursen verankert sind,(1) arbeitet die Archivkunst mit dem Begriff des Re-Use. Diese Internet-Archivprojekte legen das Augenmerk auf Zugänglichkeit statt Speicherung.(2) Gemäss Heike Roms betone die Archivwissenschaft neuerdings, dass Dokumente erst durch Handlungen der Archivar/innen allererst zu Zeugnissen gemacht werden. Sie verwalten nicht nur, sie stellen Zeugnisse her, indem sie diese über Ablagesysteme, Klassifizierungen und dergleichen konstruieren.(3) Heike Roms war mit ihrem Oral-History-Projekt eine wichtige Referenz für unser Modellarchiv-Projekt.

Bei der Arbeit im und am Archiv müssen die Ein- und Ausschlussverfahren offengelegt und die Leerstellen mitgedacht werden, die ein Archiv ausmachen.(4) Demzufolge kann das Archiv als verortetes Gedächtnis verstanden werden. Wolfgang Ernst formuliert das so: «Wie jede Form des Gedächtnisses ist es weniger der Ort der historischen Aufbewahrung denn ein Ort der Bereithaltung, der Zurverfügungstellung und Aktualisierbarkeit; von daher gilt es, medienarchäologisch eher nach der Verkettung seiner Funktionen denn nach seiner referentiellen Illusion namens Geschichte zu fragen.»(5) Dies gilt im besonderen Mass für Archive von Performancekunst, die erst über ihre Präsenz und Zugänglichkeit eine Tradierung und Weiterschreibung ermöglichen. Wie unsere Befragung am Anfang des Forschungsprojekts ergab, sind Archive zur Performancekunst wie das Franklin Furnace Archive in New York und de Appel in Amsterdam, die seit den 1970er Jahren bestehen, die Ausnahme. In der Schweiz gibt es kein Archiv für Performancekunst. Jedoch bewahren Künstler/innen, Veranstalter/innen und ein paar einzelne (halb-)private Sammlungen und Performance-Dokumentationsmaterialien auf, die aber wegen fehlender Ressourcen nicht bewirtschaftet werden (siehe Ergebnisse Teil I). Dieser Umstand führt dazu, dass Artefakte von Performancekunst zwar hergestellt und zum Teil auch aufbewahrt werden, aber in der Regel schwer oder nicht zugänglich sind. Wir plädieren deshalb analog zu den derzeitigen Bemühungen in den Bereichen Tanz und Theater für die Schaffung eines Schweizer Performancearchivs, wozu die Ergebnisse unserer Forschung einen Beitrag leisten wollen.

 


1 Ebeling, Knut / Günzel, Stephan, Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten, Kadmos,

Berlin 2009, S. 18

2 Vgl. Fertig, Julia, «Die Archivfalle», in: kunsttexte. Sektion Künste, Medien, Ästhetik, 1/2011, S. 5–6, edoc.hu-berlin.de/kunsttexte/2011-1/fertig-julia-3/PDF/fertig.pdf (letzter Zugriff am 16.5.2012).

3 Roms, Heike, «Das Ereignis als Evidenz, die Evidenz als Ereignis. Zur Geschichtsschreibung der Performancekunst», in: MAP – media | archive | performance, 2/2010, perfomap.de (letzter Zugriff am 24.2.2011).

4 Vgl. Ernst, Wolfgang, «Das Archiv als Gedächtnisort», in: Ebeling, Knut / Günzel, Stephan, op. cit. Anm. 3, S. 187.

5 Ernst, Wolfgang, op. cit. Anm. 6, S. 186.