Auswahl der Fallstudien und Vergleichskriterien

In der praxisgeleiteten Forschungsphase entstand anhand der aufgeführten Performances im Modellarchiv und an der Tagung eine Fülle von Artefakten. Diese wurden grossteils von uns selbst produziert bzw. in Auftrag gegeben. Eine Auswahl davon haben wir für unsere Fallstudien genutzt und eingehend untersucht. In Abgrenzung zu anderen Performance-Forschungsprojekten, bei denen meistens bereits kanonisierte Werke analysiert werden, haben wir uns entschieden, mit Beispielen der zeitgenössischen Performancekunst zu arbeiten, in deren Entstehung und ‹Dokumentation› wir unmittelbar involviert waren.

Dieses Vorgehen führt naturgemäss zu dem Dilemma der Distanznahme. Neben unserer Funktion als Auftraggeberinnen und Dokumentaristinnen waren wir auch immer Augenzeuginnen der aufgeführten Performances. Die Analyse der Artefakte verlangte jedoch eine kritische Distanz zum Untersuchungsgegenstand, was in Anbetracht der engen zeitlichen Nähe und unserer persönlichen Vorlieben nicht immer einfach zu bewerkstelligen war. Um diesem Aspekt genügend Aufmerksamkeit schenken zu können und in der Fülle des vorhandenen Materials nicht den Überblick zu verlieren, beschränkten wir uns auf eine exemplarische Auswahl an Performances und Artefakttypen. 

In den Fallstudien orientierten wir uns einerseits an Methoden einer medien- und kunstwissenschaftlichen Quellenkritik, indem wir die Artefakte im Hinblick auf ihre Überlieferungsintensitäten befragten. Dabei war es uns ein Anliegen, so wenig wie möglich subjektiv zu werten. Es ist uns allerdings bewusst, dass wir in unseren eigenen Texten die Performances einer interpretierenden Weiterschreibung unterziehen.

Bei der Analyse der Tradierung bezogen wir andererseits kunst- und kulturtheoretische Ansätze in unsere Überlegungen ein. Dies ermöglichte uns eine gewisse ‹historische› Betrachtungsweise, um zwischen Konzept oder Idee einer Performance, deren Umsetzung(en) und den in den Artefakten aufscheinenden Tradierungen differenzieren zu können. Es war daher für unsere Analyse sehr hilfreich, die schriftlich verfassten Konzepte der Künstler/innen zur Verfügung zu haben. Neben diesen Konzepttexten untersuchten wir die folgenden Artefakttypen: Fotografien (Einzelbild oder Bilderreihe), Video- und Audioaufzeichnungen, schriftliche und mündliche Augenzeugenberichte sowie Performancetexte.

Um überhaupt eine Auswahl aus den Performances treffen zu können, verfassten wir im Anschluss an Modellarchiv und Tagung kurze Beschreibungen der Performances und extrahierten daraus die Themenfelder und Diskurse, die mit unseren Forschungsfragen korrelierten. Im Weiteren ordneten wir den verschiedenen Performances charakterisierende Begriffe zu. Um nicht ins Dilemma einer hierarchisierenden Struktur zu geraten, die unserer Meinung nach im Feld der Performancekunst nicht greifen kann, entschieden wir uns, von ‹Genres› zu sprechen, die gleichwertig nebeneinander existieren (siehe related documents). Die jeweiligen ‹Genrebegriffe› basieren auf inhaltlichen, formalen und strukturellen Parametern der Performances. Es ist uns bewusst, dass wir sowohl mit der gewählten Begrifflichkeit als auch mit diesen Zuweisungen unseren eigenen Blickwinkel offenlegen. Unsere Untersuchungen möchten aufzeigen, welche Artefakte und Artefaktkombinationen sich für die Tradierung eines bestimmten Performance-Genres eignen.

Das Auswahlverfahren der Performances für die Fallstudien erfolgte zweistufig. Den Ausgangspunkt bildete unser individuelles Forschungsinteresse. Danach überprüften wir Umfang und Qualität der zur Verfügung stehenden Artefakte und passten gegebenenfalls die Auswahl an. Jedes Teammitglied entschied sich daraufhin für zwei Fallstudien.

In den Fallstudien verglichen wir zuerst verschiedene Artefakte, Artefakttypen oder Aufzeichnungsmethoden miteinander resp. befragten die jeweiligen medienspezifischen Weiterschreibungsintensitäten. In dem Zusammenhang überprüften wir allfällige Übereinstimmungen oder Abweichungen zu unseren bereits gewonnenen Erkenntnissen aus den Interviews und banden diese an Diskurse von Performativität, Medialität, Gedächtnis / Archiv / Erinnerung, über das Dokumentarische und das Verhältnis von Bild und Raum. Welche Rolle der Körperübertragung in der Tradierung von Performancekunst zukommt, wurde von uns nicht weiter beleuchtet, da der Körperdiskurs in der Performancetheorie bereits umfangreich (aus-)diskutiert wurde. Es wäre jedoch für ein nachfolgendes Projekt gewinnbringend, die spezifische Tradierung von Körperübertragungen (z. B. in Form von körperlichen Gewohnheiten, Gesten, Tanz), d. h. die sogenannte Body-Body-Transmission, genauer zu untersuchen. Die Performancetheoretikerin Rebecca Schneider hat dazu bereits 2001 Überlegungen formuliert.1

Die Kriterien für die Untersuchung der Tradierungsleistung von Artefakten orientierten sich an den Erkenntnissen, die wir aus den Interviews gewonnen hatten (siehe related documents):

  • die informative Ebene, d. h. die an den Werkprozess gebundenen inhaltlichen, formalen und konzeptuellen Aspekte sowie der Einsatz der Mittel
  • die Dimension der Wahrnehmung, d. h. zeitliche, räumliche, atmosphärische, visuelle, auditive, olfaktorische / haptische sowie leibliche Wahrnehmungsprozesse
  • die Ebene des Publikums, d. h. seine Reaktionen und seine affektive Beteiligung
  • die kontextuelle Ebene, d. h. Aussagen über die Institution, die ortsspezifischen Gegebenheiten sowie die (kultur-)politischen und historischen Rahmenbedingungen

 


1 Vgl. Schneider, Rebecca, «Performance Remains», in: Performance Research, 6(2), 2001, S. 100–108.