Gisela Hochuli, Analyse der Biografien aus den Archivschachteln, Vergleich zwischen Tonspur, Bilderreihe und Performancematerial

Artefaktvergleich der Sprechperformance von Gisela Hochuli (Künstlerin, Bern) vom 19. August 2011 im Ausstellungs- und Vermittlungsprojekt archiv performativ: ein Modell, Ausstellungsraum Klingental, Basel

Untersuchte Artefakte

 

A) Kurzcharakterisierung der lautpoetischen Sprechperformance «Analyse der Biografien aus den Archivschachteln»

Die Sprechperformance Analyse der Biografien aus den Archivschachteln von Gisela Hochuli entstand in der ersten Woche des Modellarchivs und basierte auf den Curricula Vitae, die die Künstlerin aus den Archivschachteln der anderen Künstler/innen zusammengetragen hatte. Hochuli sammelte die Daten unter folgenden Fragestellungen: «Jahrgänge: Wie viele Künstler/innen haben welchen Jahrgang?», «Länder: Wie oft kommen sie in den Biografien vor?», «Städte: Wie oft kommen sie in den Biografien vor?» und «Schulen?». Aus diesem Material stellte sie Statistiken her, die sie als Diagramme im Format A3 visualisierte. Die Blätter waren am Veranstaltungsabend an die Innenseite der Regaltüre gepinnt, die vom Ausstellungsbereich zum rückwärtigen Medienraum des Modellarchivs führt. Die Performerin sass im Medienraum an einem kleinen runden Tisch und las die zusammengetragenen Daten in ein Mikrofon, ihre Stimme war über einen Lautsprecher auch im Ausstellungsbereich des Modellarchivs zu hören. Gisela Hochuli begann mit ihrer Lesung, bevor das Publikum eintraf, und beendete sie erst, als die nächste Performance des Abendprogramms begann. Sie bezeichnete die Performance als «Poésie Sonore»(1), womit sie sich auf ein Verfahren beruft, das die Sprache aus dem Rahmenwerk der Bedeutung löst, wobei sie mit der Körperlichkeit ihrer Stimme die Sprechperformance vortrug. Des Weiteren wendete Hochuli für die Datensammlung Methoden der wissenschaftlichen Recherche an, wobei sie diese laut ihrer Aussage ad absurdum führen wollte, u. a. dadurch, dass die ausgewerteten Daten keine inhaltlich Relevanz evozierten. Ihre Arbeit ist als ein experimenteller Tradierungsvorschlag oder als Versuch einer Tradierung zu interpretieren, mit dem die Performerin über die lautpoetische Umsetzung das ausgewählte Material in ein Hörerlebnis übertrug.(2)

B) Auswahl der Artefakt-Typen

Anhand der Audiospur der Handkamera (Dauer 5,54 Minuten), der fotografischen Aufnahmen (elf Fotos) und der von der Künstlerin selbst produzierten Säulen- und Kuchendiagramme, die wir als Artefakt-Typ ‹Objekte/Materialien› bezeichnen, analysiere ich die Tradierungsleistung der ausgewählten Artefakte und setze diese zueinander in Beziehung. Dabei verzichtete ich explizit auf die Bildspur der Videoaufzeichnung, um die medialen Leistungen der Artefakte einer begrenzteren und spezifischen Analyse zu unterziehen.

C) Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei der Überlieferung und Weiterschreibung der Performance über die Artefakte unter Berücksichtigung verschiedener Aspekte, die für die Performance konstituierend sind

Acht Fotografien zeigen Gisela Hochuli neben einem runden Tisch sitzend, auf dem eine eingeschaltete hellblaue Tischlampe steht. In der Hand hält sie ein Mikrofon. Auf einzelnen Fotos ist sichtbar, dass sie in das Mikrofon spricht. Auf zwei weiteren Bildern ist die Innenwand der Regaltüre zu sehen, die in der Ausstellung Modellarchiv als Eingang zum ‹Medienraum› konzipiert war. Darauf sind vier Blätter zu sehen, die Diagramme zeigen, betitelt mit «Jahrgänge», «Länder»‚ «Städte» und «Schulen». Auf einem weiteren Foto ist der in einem Regal stehende Lautsprecher zu sehen, über den die Lesung vom Medienraum in den Ausstellungsraum übertragen wurde. Auf den Fotos sind keine Besucher/innen abgebildet, was darauf schliessen lässt, dass die Fotografin sich darauf beschränkte, die Künstlerin, Materialien und mediale Umsetzung zu fotografieren. Das Setting der Aufführung wird über die Fotos nachvollziehbar, und die darauf abgebildeten Diagramme geben Hinweise auf den inhaltlichen Aspekt und auf das, was über den Lautsprecher zu hören war.

Die Audiospur erschliesst dagegen etwas davon, was in der lautpoetischen Lesung zu hören war. Auf ihr sind zu Beginn noch die Stimmen von Besucher/innen zu hören, die sich begrüssen und sich unterhalten. Nach ca. 30 Sekunden ertönt die Stimme der Performerin, die in einem regelmässigen Rhythmus und monoton, mit ruhiger Stimme und deutlicher Aussprache Namen von Hochschulen aus dem In- und Ausland vorliest. Die Lesung bleibt akustisch im Vordergrund, und im Hintergrund sind weiterhin Stimmen von Besucher/innen zu vernehmen, oder zwischendurch auch Schritte. Gegen Ende der Aufzeichnung sind wieder nur noch die Stimmen des Publikums zu hören. Die Lautstärke der Sprechperformance nimmt währenddessen ab und wieder zu, je nachdem, wie weit das Mikrofon der Videokamera von der Künstlerin oder vom Lautsprecher entfernt war. Die Audiospur vermittelt also akustisch die Live-Situation, sowohl die Stimme der Performerin als auch die Stimmen des Publikums.

Hochulis lautpoetische Sprechperformance konnte in dem gegebenen Setting von den Besucher/innen nur dann wahrgenommen oder in seiner Gänze rezipiert werden, wenn sie sich in den Medienraum begaben oder bewusst auf die Stimme aus dem Lautsprecher achteten. Da auf den Fotos kein Publikum abgebildet ist, bleibt dieser – in der Audioaufzeichnung anklingende – Aspekt in den visuellen Artefakten unrepräsentiert.

Auf der dritten Sorte von Artefakten, den Diagrammen, ist als Überschrift «Analyse der Biografien aus den Archivschachteln» zu lesen, was, als Quellenangabe gelesen, Rückschlüsse über die Herkunft der Daten zulässt. Die Diagramme übernahmen in der Aufführung die Funktion von Skripten oder Notationen, wobei vordergründig auch die Anforderungen an eine soziologisch-wissenschaftliche Untersuchung eingelöst wurden, deren ‹Ergebnisse› vorgetragen werden. Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Audiospur, die Fotografien und die Diagramme vermitteln einzeln nur fragmentarisch einen Eindruck vom Inhalt der Aufführung. Die Sprechperformance lässt sich aber anhand der Kombination der verschiedenen Artefakte nachvollziehbar machen und erschliessen, und auch die Bedingungen der Performance sind aus den Artefakten ablesbar. Dazu wird mit dem Verweis auf die «Analyse der Biografien aus den Archivschachteln» auf den Diagrammen auch der konzeptuelle Hintergrund der Performance deutlich.

Die nur knapp sechs Minuten dauernde Audiospur auf der Videoaufzeichnung gibt keinen Hinweis über die effektive Dauer der Performance. Über die zeitliche Dauer sind insgesamt aus den Artefakten keine weiteren Hinweise ablesbar, auch die vorhandene Anzahl von elf Fotografien lässt diesbezüglich keine Rückschlüsse zu. Auch ist über die Wahl des Ortes der Performance – ein Raum mit Kunstlicht – nicht eruierbar, zu welcher Tageszeit die Performance aufgeführt wurde. Die Kleidung der Künstlerin (leichte, hochgerollte hellbeige Hose, ärmelloses schwarzes T-Shirt und mit den Füssen barfuss in Flip Flops) lässt auf sehr warme Temperaturen schliessen. Die Hintergrundstimmen der Besucher/innen vermitteln den Eindruck einer entspannten Atmosphäre. Auf den Fotos ist jedoch sichtbar, dass die Aufführung im Modellarchiv im Ausstellungsraum Klingental stattfand, womit der kontextuelle Rahmen der Performance markiert ist.

D) Vergleichende Analyse

Gisela Hochuli war in der ersten Woche des Modellarchivs anwesend, und ihre Performance wurde innerhalb dieser Zeit konzipiert. Die Aufführung ist dem Genre Sprechperformance zuzuordnen, da die Stimme ein tragendes Element der Arbeit darstellt und sie charakterisiert. Hochuli liess sich vom Material und den Artefakten in den Archivschachteln der einzelnen Künstler/innen, die im Kaskadenkondensator von 1998 bis 2006 in Basel aufgetreten sind, inspirieren und wählte aus den darin aufbewahrten Materialien allein die biografischen Daten aus. An dieser Recherche ist bemerkenswert, dass sie die eigentlichen Performances ausser Acht liess und sich mit einer wissenschaftlichen Methode – dem Erstellen von Statistiken – ausschliesslich den Biografien der Künstler/innen widmete. Die Wahl ihrer Vorgehensweise stützt sich auf eine forschende Haltung, die künstlerisch in eine Sprechperformance transformiert wurde, was als eine zugleich fragmentarische und zielgerichtete Weiterschreibung des Archivs zu lesen ist. Dabei entzog sie die Daten, die Curricula Vitae der Künstler/innen, ihrem ursprünglichen Kontext, den Archivschachteln des Modellarchivs, und anonymisierte sie. Durch den Aufführungsort und den Titel ihrer Sprechperformance, Analyse der Biografien aus den Archivschachteln, stellte Gisela Hochuli den Bezug zum ursprünglichen Kontext wieder her. Hochuli wählte für ihre Performance keine akustischen-technischen Verfremdungen oder nahm keine Veränderungen vor, sondern sie sprach mit klarer Stimme und unveränderter Tonlage in das Mikrofon. Durch den Effekt dieser in der Performerin verkörperten oder körperlich gemachten Sprache ohne erkennbaren Sinn entstand eine Aufführung, die zugleich doch explizit mit den dokumentarischen Elementen aus dem Modellarchiv in Bezug gesetzt werden konnte und die Quelle der Daten selbst auch offen legte.

Die Sprechperformance kann nach Michel de Certeau, aus historischer Sicht betrachtet, als ein Verfahren des Archivierens gesehen werden: «In der Geschichte beginnt alles mit der Geste des Beiseitelegens, des Zusammenfügens, der Umwandlung bestimmter, anders klassifizierter Gegenstände in ‹Dokumente›. In Wirklichkeit besteht sie darin, derartige Dokumente durch Kopieren, Transkribieren oder Photographieren dieser Gegenstände zu produzieren, da sie gleichzeitig ihren Ort und ihren Status verändert.»(3) Das von der Künstlerin verwendete Quellenmaterial wurde mit wissenschaftlich-quantitativen Verfahren in einen künstlerischen Kontext transformiert, und sie stellte daraus ein neues eigenständiges Artefakt (Diagramme) her, wobei die Arbeit die Geste des «Beiseitelegens» impliziert. Michel de Certeau betont, dass das Problem nicht nur darin bestehe, diese dokumentarischen Bereiche zum Leben zu erwecken, was mit dem Bearbeiten der Materialien aus dem Kaskadenkondensator im Modellarchiv experimentell umgesetzt wurde. Mehr noch: «dem Schweigen eine Stimme oder einem Möglichen Geltung zu verleihen [,…] das bedeutet auch, etwas, das einen bestimmten Status und eine bestimmte Rolle hatte, in etwas anderes, das anders funktioniert, zu verwandeln.»(4) Das Ziel des Modellarchivs war, das Dokumentationsmaterial des Kaskadenkondensators wiederzubeleben. Darin ist die Arbeit von Gisela Hochuli als eine adäquate Weiterschreibung zu lesen, und ihre lautpoetische Sprechperformance löst als Experiment genau diesen Anspruch ein.

Die Fotografien der Aufführung haben meiner Auffassung nach keinen ikonografischen Wert, da sie keine Rückschlüsse auf den Inhalt der Performance zulassen. Es sind laut Bilder, die nach dem Prinzip der «Zeug/innenschaft» (Gernot Böhme) funktionieren, weil sie das wiedergeben, was von Augenzeug/innen am gleichen Standort genauso gut gesehen werden konnte. «Für die Fotografie ist das Ausschlusskriterium – dass nichts gezeigt werde, was von einem bestimmten Standpunkt aus nicht sichtbar war – trivialerweise erfüllt, wodurch es sich im besonderen Masse als realistisch empfiehlt.»(5) Dies ist bei den genannten elf fotografischen Aufzeichnungen der Fall, obwohl sie trotz der ausschnitthaften und subjektiven Sicht – die jeder Fotografie inhärent ist – das Ereignis, das stattfand, abbilden. Jede Fotografie bildet einen bestimmten Moment innerhalb eines Zeitkontinuums ab und sie ist als Artefakt sehr geeignet, das, was an Informationen darüber vermittelt oder ausgesagt wird, ins kulturelle Gedächtnis einzuschreiben. Die sehr begrenzte Anzahl an Bildern überlässt es der Betrachter/in, sich die Aufführung vorzustellen, wobei erst die zusätzlichen Artefakttypen ‹Audiospur› und ‹Objekte/Materialien› (Diagramme) in der Kombination die Weiterschreibung ermöglichen.

Mai 2012, Margarit von Büren

 


1 Diese lautpoetische Umsetzung lässt sich auf Aspekte der modernen Lyrik zurückführen. Unter «Lautpoesie» wird eine Versprachlichung verstanden, die auf Sinn in der Sprache verzichtet und der Sprache damit ihre inhaltliche und bezeichnende Funktion entzieht. Es ist eine formale Lautmalerei, die den Klang in den Vordergrund stellt und sich damit der Musik annähert. Wichtige Vertreter/innen dieser Gattung finden sich u. a. im Kontext von DADA und reichen über Kurt Schwitters bis zur heutigen Rap- und Slampoetry-Szene. Vgl. de.wikipedia.org/wiki/Lautpoesie (zuletzt aufgerufen: 07.04.2012).

2 Die Beschreibung basiert auf meiner persönlichen Erinnerung als Augenzeugin, ich war sowohl in der gesamten ersten Woche im Modellarchiv anwesend wie auch bei der öffentlichen Veranstaltung.

3 De Certeau, Michel, «Der Raum des Archivs oder die Perversion der Zeit», in: Knut Ebeling / Stefan Günzel (Hrsg.), Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten, Kadmos, Berlin 2009, S. 113.

4 De Certeau, op. cit., Anm. 3, S. 116.

5 Böhme, Gernot, Theorie des Bildes, Fink Verlag, München 1999, S. 114.

 

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